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                                                                                                                                                             F.E. Rakuschan


Devianz Randale Rebellion Revolte usw.


Die (Welt-)Gesellschaft ist ein ko-evolutionär hoch ausdifferenziertes Kommunikationssystem, das in sich eine Vielzahl verschiedener System/Umwelt-Differenzen aufweist. Auch wenn sich heute sagen lässt, dass alle Teilsysteme der Gesellschaft durch universelle Bits miteinander verbunden sind, gibt es weder alles umfassende Werte noch einen allem zu Grunde liegenden Sinn. Der Sinn, vorgestellt als eine einheitliche, differenzlose und nichtnegierbare Substanz, ist ebenso ein Phantasma wie das sogenannte ´sinnstiftende Subjekt´. Denn nur weil Sinn basal instabil ist, kann Realität für Zwecke emergenter Systembildung als Sinn behandelt werden (Luhmann 1984). Wenn wir von Differenz reden, dann nur im Anschluss an den Sinnbegriff, mit der Prämisse, dass Sinn nur auf Grund einer konstitutiven Differenz erfahren werden kann. Indem an jedes Sinnerleben weiteres Erleben oder Handeln anschließen muss, wird Differenz erst durch die Zeitdimension zur Differenz (Derrida 1990). Jeweils handelt es sich dabei um die Differenz eines Überschusses an Möglichkeiten, dem eine Wirklichkeit eines jeden Sinngebrauchsverhaltens gegenüber steht. Was so unterschiedliche Systeme, wie psychische und soziale Systeme, verbindet, ist ihre je eigene Orientierung an Sinn. Nur unter diesem Aspekt wird die Autopoiesis des Gesellschaftssystems und seiner Teilsysteme im Hinblick auf Kommunikation, Handlung, Ereignis, Kultur- und Strukturform plausibel. Erst in der Ordnungsleistung durch die beteiligten Systeme selbst, kommt den Letztelementen im Kontext der jeweils situationsbedingten möglichen Optionen Sinnkonstitution zu. Und das im permanenten Wechsel ihrer Bezugnahmen (bewusst/unbewusst, Wissen/Nichtwissen u.a.m.) auf die verschiedenen sozialen Systeme mit ihren je eigenen Wertpräferenzen, Sinnhorizonten und Kommunikationsmodalitäten. Fragt man nach der sinnspezifischen Strategie des Auffangens und Prozessierens der eigenen Instabilität von Sinn, rückt – nach Luhmann – die Verwendung von Differenzen für anschließende Informationsverarbeitung in den Blick.


Egal ob der Systembegriff holistisch (Teil/Ganzes), kybernetisch (Element/Relation) oder konstruktivistisch (Operation/Schließung) definiert ist, die gegebene Komplexität muss vollständig als Differenz von Komplexitäten verstanden werden. Aus ihrer je eigenen Beobachtungsposition der an einem Konflikt beteiligten psychischen Systeme kann keine gesellschaftlich verbindliche Aussage darüber gemacht werden, was und warum etwas sein darf oder nicht. Das leistet schlussendlich nur die Beobachtung zweiter Ordnung. Sinn kann dabei immer nur als Differenz von gerade Aktuellem und einem Möglichkeitshorizont Sinn sein, denn jede Aktualisierung führt immer auch zu einer Virtualisierung der daraufhin anschließbaren Möglichkeiten. So gesehen relativiert sich das sogenannte deviante Verhalten, da es lediglich auf Basis einer Übereinkunft als Gegenbegriff Geltung hat. Die vermeintlich deviant handelnde Person schöpft aus der je eigenen motivationalen Basis und folgt situationsbedingt sowohl auf der Ebene eines psychischen Systems als auch durch Bezugnahme auf ein soziales System, wenn auch als Negation in der Kommunikation, den jeweiligen systemreferentiellen Vorgaben (Selbst-/Fremdreferenz). In der Regel erst im Rückblick zeigt sich in vielen Fällen, dass das einstmals als deviant bezeichnete Verhalten eine durch die allgemeine soziokulturelle Evolution freigesetzte Negationsmöglichkeit war, die etwa nur Jahrzehnte später zum gesellschaftlichen Mainstream wurde. Damit wird auch verständlich, dass Sinn – nach systemtheoretischer Konzeptualisierung - die Einheit von Aktualisierung und Virtualisierung, Re-Aktualisierung und Re-Virtualisierung ist, also ein sich durch Systeme selbst konditionierter Prozess ist. Und die Devianz, also das von der sogenannten Norm sozialen Verhaltens abweichende Verhaltensmuster, unter einem evolutionstheoretischen Aspekt lediglich ein strukturell gekoppelter Variationstyp ist. Das schützt freilich nicht vor der Ahndung von Handlungen, die im Rechtssystem als Verstoß gegen Gesetze Geltung haben.


Wenn auch in manchen Fällen schwer entscheidbar, weil es dabei zur Kollision zweier je unterschiedlicher Wirklichkeitsmodelle (Kunstsystem vs. Rechtssystem) kommt, sind die künstlerischen Avantgardebewegungen der Moderne ein anschauliches Beispiel für die Definition, Devianz ist ein strukturell gekoppelter Variationstyp. Einerseits gibt es da seitens der Kunst teils heftige Devianzbekundungen mit entsprechend ´martialischen´ Artikulationsformen an die Adresse der Gesellschaft, andererseits wurden damit wesentliche Sinnperspektiven des bürgerlichen Kulturmodells, wie Zukunftsoptimismus und Machbarkeitsvertrauen, affirmiert; denkt man an die Ansprüche eines quasi entfesselten Kapitalismus in jener Zeit. Ein entscheidender Faktor für ´die Beurteilung´ eines Verhaltens im Rahmen von Interaktions- und Organisationssystemen ist fraglos auch der jeweilige Ausdifferenzierungsstand der Begriffs-, Dogmen- und Theoriekonzepte. Jede Negation kann prinzipiell zu einer fehlgelaufenen oder erfolgreichen Aktivität werden, was letztendlich und als Ereignis quasi fassbar im darauf bezogenen Funktionssystem entschieden wird; ebenda entscheidet sich, ob der Anschluss an weitere Kommunikation gelingt oder nicht. Aber auch vorerst fehlgelaufene Kommunikationsangebote können, so sie später re-aktualisiert werden, im Abgleich zum (neuen) Ist-Zustand zu ´erfolgreichen Semantiken´ werden.


Eine Diskussion über Devianz gewinnt noch mehr an Brisanz, wenn wir jene Ordnungsvorstellungen mitberücksichtigen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den naturwissenschaftlich geprägten Komplexitätswissenschaften entwickelt wurden. Man denke an Ordnung durch Fluktuation (Ilya Prigogine 1976), durch Irritation („noise“, Heinz von Foerster 1993) oder durch spontane Selbstorganisation (Mitchell Waldrop 1994). Nur um hier noch kurz dazu in einen Sachverhalt gleichsam rein zu zoomen, ist für unser Thema die

neurophysiologische Entdeckung des Prinzips der „undifferenzierten Codierung“ (Foerster 1993, 56) interessant. Demzufolge sind Nervenzellen nicht etwa Sensoren für Informationen, sondern Sensoren für Störungen, aus denen aufgrund interner Berechnungen Informationen errechnet werden. „Müssen nicht Störungen“, fragt Dirk Baecker, „gesucht und gefunden werden, wenn keine auftreten, damit das System Anlässe für die Reproduktion seiner Operationen bekommt? Wäre die vollkommene Abschirmung nicht das Ende des Systems? Eine Minimalbedingung für Kognition scheint, mit anderen Worten, darin zu liegen, dass das System zumindest zwischen seinen Operationen und deren Unterbrechungen unterscheiden kann, damit es aus letzteren erstere gewinnen kann“ (Baecker 2002, 48-49) Evident ist, dass es vollends obsolet ist, heute noch Ordnung durch Einheit beschwören zu wollen. Einzig Ordnung durch Diversität hat Zukunft.



Literatur


Dirk Baecker (2002): Über Verteilung und Funktion der Intelligenz im System, in, ders., Wozu Systeme, Berlin.


Derrida, Jacques (1990): Limited Inc., hrsg. und übers. von Elisabeth Weber, Paris.


Foerster, Heinz von (1993): Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, hrsg. von Siegfried J. Schmidt, Frankfurt/M.


Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.


Prigogine, Ilya (1976): Order through Fluctuation: Self-Organization and Social System, in, Evolution and Consciousness. Human Systems in Transition, hrsg. von Erich Jantsch und Conrad Waddington, London u.a., S.93-133.


Waldrop, Mitchell (1994): Complexity. The emerging science at the edge of order and chaos, London.


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